Rücksichtslos!

So rücksichtslos

Ich war im Museum, um mir eine Ausstellung anzusehen.
Im Vorraum standen mit mir circa weitere fünfzehn Menschen, um die Vita der Künstlerin auf großformatigen 2,00×1,50 m Flächen zu lesen.
Vertieft las ich die Biografie der Künstlerin, als eine mir fremde Frau sich zu mir drehte und empört in meine Richtung gewandt sagte:

„Die Brille scheint ja nichts zu bringen“. Sie schien von mir eine Antwort zu erwarten.

Ärger

Verärgerung stieg angesichts der Störung in mir auf. Ich brauchte gefühlt 30 Sekunden, um die Situation klar zu bekommen.

Vor einer der Biografietafeln stand eine Frau mit starken Brillengläsern und las aus ca. 15 cm den Text.
Den dahinter stehenden Menschen war damit der Blick auf die Tafel verstellt.

Direkt verstärkte sich meine Verärgerung mit Fragen von:
  • Wieso werde ich hier von einer fremden Frau angequatscht?
  • Was kann ich dafür, wenn die Frau vor der Tafel steht?
  • Kann sie nicht selbst mit der Frau sprechen?

Mitgefühl?

Als Nächstes spürte ich Mitgefühl. Die Frau direkt vor der Tafel, hatte vermutlich Probleme den Text zu lesen und die einzige Möglichkeit sich zu helfen, bestand augenscheinlich darin, so nah wie möglich davor zu stehen.

In diesem Moment stieg mein Groll auf die mir nebenstehende Frau, die mit dem nächsten Kommentar aufwartete: „Eine Frechheit ist das“.
Meine Empörung wuchs. Um nicht los zu blaffen, drehte ich ab und ging in den Nachbarraum, um mir eine Pause zu verschaffen.

Ich war wütend, empört und hilflos angesichts der Kommentare.

Ruhe, Selbstbestimmtheit und Mitgefühl waren hier gerade überhaupt nicht für mich gegeben.

Mitgefühl überrollte mich, angesichts der Frau direkt vor der Biografietafel.

Für die kommentierende Frau hatte ich kein Mitgefühl. Als ich das merkte, tauchte Scham in mir auf.

Ich stellte mir bewusst die Frage, wie es der Besucherin gehen könnte, deren Blick auf die Biografietafel verstellt wurde.
Scheinbar war sie verärgert, verblüfft und ebenfalls hilflos der Situation ausgeliefert.
Ihre Bedürfnisse nach Freiheit, Gleichwertigkeit und Selbstbestimmtheit waren vielleicht nicht erfüllt.
Sofort floss mein Ärger ab und ich konnte für beide Parteien Mitgefühl empfinden.

Empathie

Ich ging zurück, um nach der „empörten Frau“ Ausschau zu halten und sprach sie an:
„Ich habe gerade gehört wie sie zu mir sagten, die Brille scheint nichts zu bringen und dass es eine Frechheit sei, stimmt das?“

„Ja“ sagte die Frau, „das ist wirklich eine Frechheit, andere wollen auch was sehen“.

„Ah“ sagte ich, „sie möchten auch etwas sehen und Sie denken, dass sie da gerade eingeschränkt sind?“

„Ja genau“, sagte die Frau immer noch empört, „man kann ja wohl auch Rücksicht auf die anderen nehmen. Das gehört sich doch so.”.

„Ok“, sagte ich, „Ihnen ist Rücksicht wichtig. Das kann ich verstehen, wie können Sie denn jetzt Rücksicht bekommen?“

Die Frau schaute mich verblüfft an und fragte zögerlich: „Wie meinen Sie das jetzt?“

Na ja“, sagte ich, „was könnten Sie denn tun, damit die Dame vor dem Bild weiß, dass ihnen Rücksicht wichtig ist und Sie auch die Biografie lesen möchten?“

„Gar nichts“, erwiderte die Frau.

„Ich habe eine Idee“, sagte ich, „wollen Sie die von mir hören?

Woraufhin sie antwortete: „Ja, da bin jetzt aber mal neugierig.“

„Sie könnten die Dame bitten, sich seitlicher vor die Tafel zu stellen? Was halten Sie davon?“

„Ach“ sagte die Frau und winkte mit der Hand ab, „so wichtig ist mir das nicht, ich glaube ich warte einfach, bis sie weiter gegangen ist. Sie macht das bestimmt nicht absichtlich“ und sie setzte hinzu: „Ich sehe ja, dass sie scheinbar nicht so gut lesen kann, darauf kann ich mich ja einstellen.“

“Super“, sagte ich, „das hört sich für mich nach einer guten Lösung an. Vielen Dank“.

Innere Ruhe

Danach setzte ich meinen Ausstellungsbesuch fort, den ich in vollen Zügen genoss. Ich begegnete der “kommentierenden” Frau noch zweimal und jedes Mal lächelten wir uns zugewandt zu.

Meine Ruhe hatte sich wieder eingestellt, statt mit Groll zu reagieren, hatte ich für mich gesorgt und gleichzeitig durch das Gespräch die Empörung und Hilflosigkeit der Besucherin in Mitgefühl und Rücksichtnahme gewandelt.