David gegen Goliath

Ich radelte gut gelaunt nach einem erfüllten Tag nachhause. Ca.30 m vor mir hörte ich plötzlich lautes Brüllen.
Als ich um die Ecke kam, sah ich an einer Straßenecke einen wütenden Fahrradfahrer mit Kinderanhänger, der auf einen Bulli eindrosch und dabei schrie: “Du Vollidiot, du Irrer, hast du sie noch alle.“
Er war äußerst aufgebracht, riss am Scheibenwischer und schlug immer wieder mit der Faust auf den Bulli ein. Er schien wie von Sinnen.

Hinter der Fahrerkabine des Bullis sah ich den verwuschelten Kopf eines stummen Fahrers. Der Fahrradfahrer war in unbändiger Wut, schlug, schrie, trat gegen den Bulli, riss erneut am Scheibenwischer und schien sich nicht beruhigen zu können.

Fluchtimpuls

Die Szene machte mir Angst, sofort fing mein Herz zu rasen an und mein erster Impuls war, schnell vorbei zu fahren und mich in Sicherheit zu bringen.
Nach vier weiteren gefahrenen Metern stoppte ich, um mich der Szenerie zuzuwenden.

Angst spüren und handlungsfähig bleiben

Etwas anderes wurde sehr laut in mir; „Petra für was lernst und unterrichtest du GfK, wenn du dann, wenn es ernst wird, davonrennst.
Du willst doch Frieden, oder?“

Ja das will ich und ca. zwei Sekunden später nahm ich – und mein laut schlagendes Hasenherz – allen Mut zusammen, um mit Sicherheitsabstand laut und vernehmlich den Fahrradfahrer anzusprechen: „Hallo, kann ich etwas für Sie tun?“

Sofort wandte der Fahrradfahrer den Kopf zu mir, um die Aufmerksamkeit seiner Schimpftirade auf mich zu richten, was mich einerseits beunruhigte und andererseits erleichterte, da er davon abließ, das Fahrzeug zu beschädigen.

Vertrauen

Während seines Schimpfens schaute ich ihm in die Augen und hörte schweigend zu. Blieb die gefühlte, unendlich lange, wütende Zeit mit meiner Aufmerksamkeit bei ihm. Mein Herz raste weiterhin, doch als er Luft holen wollte, sagte ich mutig in die kurze vermeintliche Atempause: „Wow, Sie scheinen ganz schön aufgeregt zu sein, vermutlich hatten sie gerade ganz schön Angst um ihr Leben und das Leben ihres Kindes?

Der Fahrradfahrer sah mich an und ich dachte schon, jetzt springt er mir an den Hals, doch tatsächlich stoppte er und es schien, als käme er im Hier und Jetzt wieder an.
Die Luft schien aus ihm zu weichen und er sagte mit kippender, sehr viel leiserer Stimme: „Ja, fast wäre ich ums Leben gekommen.“

Mitgefühl

Damit wandte er sich vom erschreckten Bullifahrer ab, klappte das Visier des Kinderanhängers hoch, um nach seinem Kind zu sehen. Ein ca. 3-jähriger Junge schaute stumm und mit großen Augen seinen Vater an. Vor dem Kinderanhänger knieend, nahm der Vater seinen Sohn in den Arm und wiegte ihn. Er sagte nichts mehr.

Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, traute sich der Bullifahrer vorsichtig aus seinem Wagen und ging zum Fahrradfahrer: „Entschuldigung, ich habe Sie wirklich nicht gesehen, ist ihnen etwas passiert?“ Kann ich etwas für sie tun?“
Er schien sehr betroffen und hilflos zu sein.
Der Vater schüttelte nur stumm seinen Kopf und wiegte weiterhin seinen Sohn.

Ich fragte den Bullifahrer wie es ihm gehe. Er sagte, er wäre total erschrocken, so etwas wäre ihm noch nie passiert, er wäre doch sonst ein so umsichtiger Autofahrer, hätte auch Kinder.
Er ging nochmals zum Fahrradfahrer und sagte: “Kann ich Sie nachhause fahren oder Ihnen und ihrem Sohn etwas Gutes tun?”

Der Fahrradfahrer lehnte ab, aber dieses Mal war es nicht schroff und abweisend, sondern es hörte sich nach einem erschöpften „Nein, danke“, an.
Und er schickte hinterher: „Es tut mir leid, dass mit ihrem Scheibenwischer.“

Ich blieb noch eine Weile bei den beiden, die sich nun gegenseitig versicherten, wie leid Ihnen jeweils ihr Verhalten täte.
Kontakt, Mitgefühl und Verbindung stellten sich wieder ein.

Erkenntnis

Aufgewühlt fuhr ich nachhause. Ich brauchte eine Weile, um die Gefühle in mir sortiert zu bekommen. Da waren Stolz, Angst, Zufriedenheit, Anspannung, Erleichterung und eine riesengroße Dankbarkeit.

Was hatte ich mir mit meinem „ungefragten Einmischen“ erfüllen wollen?

Schutz und ein friedvolles Miteinander.
Schutz für den Bullifahrer, das Kind und auch für den Fahrradfahrer, nicht noch mehr Schaden anzurichten.
Der an dieser Stelle explodierenden Wut mit Mitgefühl begegnen, statt den Menschen zu verurteilen.
Es fiel mir nicht leicht , meine Angst zu bändigen und auf den Fahrradfahrer zuzugehen, doch ich bin froh, das ich mich nicht abwandte und stattdessen versuchte, den Streit zu deeskalieren.
Marshall Rosenberg sagt dazu:

Frieden kann nicht auf den Grundlagen der Angst aufgebaut werden.